MINIMALISMUS RELOADED

Zur Typologie sozialer Tatsachen in Anette Roses Enzyklopädie der Handhabungen
Ines Lindner

Anette Roses Videoarbeiten sind konzeptuell im Ansatz, minimalistisch der Form nach und dokumentarisch vom Gegenstand her. Die „Enzyklopädie der Handhabungen“ (seit 2006) beschäftigt sich mit der Hand im Arbeitsprozess. Die Aufnahmen konzentrieren sich auf das Zusammenspiel von Hand, Auge und Maschine. Die Videoinstallationen zeigen Großaufnahmen von Gesichtern Arbeitender synchron zu den von ihnen ausgeführten Handgriffen an der Maschine. Rose integriert Aufnahmen von vollautomatisch ablaufenden Produktionsprozessen. In der Kombination fällt die Übersetzung von Handgriffen ins Maschinelle auf, zum Beispiel wenn die Zangen eines Roboters ein Werkteil fassen.

Der konzeptuelle Ansatz der groß angelegten Arbeit ist, nach der haptischen Intelligenz zu fragen und sie in den zeitgenössischen Produktionsformen zu beobachten. Es geht dabei um die Intelligenz der Hand selbst, ihre sensorische und feinmotorische Kompetenz. Der Prothetik wie der Robotik gibt sie immer noch viele Rätsel auf. Dazu befragt Rose Experten und schaut in OP-Sälen und Laboren zu. Dies gehört zu ihrer Recherchearbeit. Einzelne Befragungen werden in die Enzyklopädie integriert. Vieles fließt in Veranstaltungen ein, die die Ausstellungen einzelner Module – es sind inzwischen siebzehn – der „Enzyklopädie der Handhabungen“ begleiten.

Die anatomisch unendlich komplexe, kulturell geformte Hand hat sich evolutionsgeschichtlich aus ihrem Zusammenspiel mit Auge und Werkzeug entwickelt.1 In diesem Prozess modellieren sich Hand und Werkzeug gegenseitig. Werkzeuge verlängern die Hand und werden ihrem Gebrauch angepasst. Maschinen modifizieren die Bewegungen des Greifens, Ziehens, Schlagens, Drückens, und so weiter. Sie geben die Rhythmen der Handbewegungen vor, auf die sie ihrerseits abgestimmt sind. Roses Interesse ist es, ohne jede nostalgische Verklärung der Rolle dieser anderen Intelligenz im Produktionsalltag nachzugehen. Anders als in Dokumentarfilmen geht es weder um die Produkte, die hergestellt werden, noch um die sozialen Arbeitsbedingungen. Es gibt keine Erklärung aus dem Off, keine Erzählung, nur die genaue Beobachtung, die mit dem rhythmischen Geräusch der Maschinen unterlegt ist. Die Reduktion der Einstellungen auf Gesicht und Hände führt zu einer starken Verdichtung.

Die dokumentarische Seite von Anette Roses Arbeit besteht darin, dass sie Material zu einer Physiologie haptiler Intelligenz zusammenträgt und zugleich ein Archiv industrieller Produktions-weisen anlegt, die (noch) nicht ohne manuelle Arbeit auskommen. Sowohl die Ambition dieses Langzeitprojekts wie auch seine visuelle Prägnanz schreiben die „Enzyklopädie der Handhabungen“ in eine Tradition ein, die von August Sanders Stände Porträts bis zu den von den Bechers aufgenommenen Industriebauten reicht.2 Auch im Dokumentarfilm gibt es Langzeitprojekte, die soziale Fakten herausarbeiten. Aber nur im Medium Fotografie gab es bis-her visuelle Typologien, die der vergleichende Blick erfassen kann. Durch die Kombination der geloopten Sequenzen im Raum der Installation eröffnen sich neue Möglichkeiten. Wie in den Arbeiten von Sander und – radikaler noch – bei den Bechers, unterstützen gleich bleibende Parameter für die Aufnahmen ihre Vergleichbarkeit. Diese Strategie folgt Praktiken der empirischen Wissenschaften: Gerade durch die Verallgemeinerung in Erfassung und Darstellung tritt das Abweichende, das Spezielle deutlicher hervor. Die Festlegungen und seriellen Anordnungen sind bei Rose nicht nur formales Prinzip. Sie wiederholen die Standardisierungen durch die Maschinen, den Rhythmus der vorgegebenen Handgriffe. Davon heben sich die konzentrierten Gesichter der Arbeitenden ab. Rose zeigt sie in Großaufnahme. Das geht über das Statuarische der Fotografie hinaus, weil in der Mimik die Konzentration und Anstrengung der Arbeit ablesbar sind. Die Aufnahmen repräsentieren die Arbeit nicht, sie zeigen sie konkret in der Koordination von Blick, Hand, Werkstoff und Maschine. Gleichwohl bekommen die Gesichter besonders in der Projektion etwas Ikonisches. Es ist Fabrikalltag wirklicher Menschen und zugleich eine Würdigung gesellschaftlicher Arbeit, die in der Regel unsichtbar bleibt. Ohne einen partizipativen Prozess, an dem die Gefilmten aktiv teil-nehmen, könnten solche Aufnahmen nicht entstehen. Ihnen gehen gründliche Recherchen im Betrieb und viele Gespräche voraus. Setfotos und Werkstattgespräche in der Gießerei zeigen, dass es eine Rückkoppelung zwischen der Arbeit der Künstlerin und dem Blick auf die Arbeit im Betrieb gibt.

Es gehört zur künstlerischen Arbeit Anette Roses, an der Konkretion sozialer Akte anzusetzen, um zu einer ästhetischen Organisation zu kommen. Wie die Bechers, die systematisch Artefakte einer Industriekultur aufgenommen haben, arbeitet sie an der Schnittstelle zwischen Dokumentarischem und Seriellem. Vom Gegenstand her ist Roses „Enzyklopädie der Handhabungen“ ein Beitrag zum sozialen Gedächtnis industrieller Arbeit. Die Formstrenge, mit der sie Auswahl und Schnitt bestimmt, ermöglicht zuallererst die Kohärenz der Module, aus denen sich die „Enzyklopädie der Handhabungen“ zusammensetzt. Rose beginnt in all ihren Arbeiten mit irregulären, sozialen Prozessen, die sie auf visuelle Ausdrucksformen hin untersucht – so den Einsatz der Hände beim Sprechen und die Mimik, welche die Traumerzählungen in dem Videofilm „16 Traumstücke“ begleiten. Nach und nach schält sie aus den Beobachtungen das Material heraus, indem sie reduziert und verdichtet. Die radikale Reduktion führt dabei aber nicht zur Abstraktion. Die minimalistische Form steht in der Spannung zum performativen, sozialen Akt. Die Serialität dient einer visuellen Erkenntnisform. Anders als bei den Minimalisten der 1960er Jahre bezieht sie sich nicht allein auf den Akt der Wahrnehmung, von dem nichts ablenken sollte. Künstler wie Donald Judd oder Carl André ließen ihre Objekte aus industriellen Baustoffen fertigen, um die individuelle Ausdrucksform ebenso zu löschen wie das herkömmliche Bedeutungsspektrum der Skulptur. Mit der Durchsetzung einer minimalistischen Ästhetik verschwand allerdings die Erinnerung an die Herkunft aus der industriellen Massenproduktion. In einer ihrer jüngsten Installationen „Hand und Arbeit, Geste und Abdruck“ bezieht Anette Rose Formen mit ein, die an minimalistische Objekte erinnern: Es sind Sandkerne aus der Gießerei. Sie sind Relikte aus dem industriellen Prozess, mit dem sich die Videos befassen und zugleich eigenständige Objekte, die nichts Illustratives haben. In den 1960er Jahren ist die Übernahme serieller Fertigungspraktiken in der Kunst noch eine Provokation und enthält das Versprechen eines voraussetzungslosen Zugangs zur Kunst. Sobald der Zusammenhang mit der industriellen Produktion verschwindet, wirkt Minimalismus formalistisch, die Serie wird zur ubiquitären Form.

Das Besondere an der „Enzyklopädie der Handhabungen“ ist, dass Anette Rose damit an den verdrängten Ort des Seriellen zurückkehrt: in die Fabrik. Vielleicht ist nur Harun Farocki ähnlich insistent in der Bestimmung der Fabrik als Ursprung und 1617Zentralfigur für die politische wie mediale Entwicklung seit dem Anfang des 20.Jahrhunderts. Während für Harun Farocki als Dokumentarfilmer und Aufklärer auch im Ausstellungskontext die Textebene eine größere Rolle spielt, setzt Anette Rose auf die visuelle Evidenz. In ihren Arbeiten nutzt sie die Möglichkeiten der Installation, Kontexte herzustellen, in denen sich diese Evidenz entfalten kann. Das liegt unter anderem daran, dass der Minimalismus uns gelehrt hat, der Kunst nicht gegenüber zu stehen, sondern mit ihr ganz konkret einen Wahrnehmungsraum zu teilen und, anders als im Kino, selbst über die Form des Hinschauens zu entscheiden. Jede Installation von Modulen aus der „Enzyklopädie der Handhabungen“ bestimmt den Rahmen dafür neu. Der Minimalismus ist nicht zu unrecht verdächtigt worden, in einem ästhetischen Formalismus zu erstarren. Serialität und Öffnung zum Raum sind übernommen und unterschiedlich aufgeladen worden. Anette Rose stellt mit ihrer Arbeit die Verbindung zu seiner Herkunft wieder her. Die forschende Neugier in der Konzeption und die reale Auseinandersetzung mit sozialen Prozessen machen die minimalistische Form zum Werkzeug und Ausdruck ihrer künstlerischen Arbeit.

1 Vgl. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst.Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1980.
2 Heiner Büld hat bei einem Ausstellungsgespräch 2008 auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht.

In: Enzyklopädie der Handhabungen. 2006–2010. Anette Rose (Hg.) Bielefeld 2011

2011