Entfalten medialer Situationen. Gespräch zwischen Ines Lindner und Anette Rose

Ines Lindner, Anette Rose

Mein Videoessay »16 Traumstücke« war im Fernsehen, im Kino und im Kunstraum zu sehen. Ich habe ihn auf Festivals und im Rahmen von zwei wissenschaftlichen Tagungen gezeigt. Indem du das Video durch unterschiedliche Orte nomadisieren lässt, tritt jedes Mal an den Traumerzählungen deiner Protagonistinnen etwas anderes hervor. Einmal ist es das Erzählen, einmal die Gestensprache, einmal die Bilder und das serielle Moment. – Und jedes Mal irritiert etwas anderes die für den jeweiligen Ort typischen Wahrnehmungsgewohnheiten. Interessant finde ich, dass deine Arbeit mit Video sowohl auf den Kunstraum als auch das Kino Bezug nimmt. Ich komme von der Kunst und habe immer mit seriellen Strukturen gearbeitet. Mein Zugang zum Kino ist unter anderem von der visuellen Anthropologie und den Regeln des wissenschaftlichen, dokumentarischen Films geprägt. Am ethnologischen Film beschäftigt mich, wie die ständig präsente Reflexion über die Grenzziehung zwischen Dokument und Fiktion in die Formensprache dieser Filme einfließt. Die Ethnologen haben viel darüber nachgedacht, dass das Medium immer in das eingreift, was es zur Darstellung bringt. Es ist im Grunde dieselbe Reflexivität, auf die die Avantgarden in der Kunst bestanden haben: Zeigen, wie etwas gemacht ist. Für die Wissenschaftler ist es zur Beurteilung des gewonnenen Materials notwendig. Deswegen haben die Dokumentaristen versucht, sich Regeln zu geben. Die Dogma-Gruppe hat das noch einmal nachbuchstabiert. Interessant ist, dass es immer auch um eine Ökonomie der Mittel geht, die zu einer Ökonomie der Form beiträgt. Es geht nicht um das Erfinden von Bildern wie im Hollywood-Kino, sondern um das Finden, Auffinden, Freilegen. Genau. Nicht ich konstruiere eine Geschichte, sondern die Geschichte ist schon da. Ich brauche sie nur aufzurufen. Meine Arbeit konzentriert sich darauf, etwas Bestimmtes an dem Material zu beleuchten, die Erzählung herauszuschälen, die Darstellung zu klären und zu formalisieren. Auswahl und Schnitt in der Nachbearbeitung sind dabei entscheidend. Das ist eher ein skulpturaler Vorgang: du hast einen Stein und du schlägst vom Stein solange ab, bis das Wesentliche übrig bleibt – das ist eine Produktionsmethode. Die andere fängt bei Null an und baut auf. Die Ergebnisse können sich unter Umständen ähnlich sehen, aber das sind sehr verschiedene Prozesse. Erfinde ich eine Geschichte oder nehme ich eine Geschichte, die da ist und versuche sie zu organisieren. Wie genau sieht die mediale Situation aus, die du herstellst? Für »16 Traumstücke« habe ich den Rahmen und die einzelnen Elemente der Aufnahme festgelegt und vereinheitlicht, ähnlich wie in einem wissenschaftlichen Experiment. Die Stücke inszeniere ich in einem Studioraum, der neutral wirkt. Ich streiche den Privatraum der Protagonistinnen. Keine Tür, kein Fenster soll als erzählendes Moment den Raum einordnen und die Aufmerksamkeit von den Erzählungen ablenken oder diese interpretieren. Eine Art »Kammerstück«. Gefilmt wird mit drei synchron laufenden Kameras. Ich entscheide zuvor, welche Kameraeinstellungen nötig sind, um die körperliche Präsenz beim Erzählen festzuhalten. Ausgangspunkt meiner Beobachtung ist, wie die Protagonistinnen es schaffen, ihre nächtlichen Traumbilder in Sprache zu übersetzen. Ich verfolge »die allmähliche Verfertigung des Traums beim Reden« (frei nach Kleist). In deiner Arbeit geht es um die Art, wie gesprochen wird. In einer Gesprächssituation stört es nicht, wenn sich im Sprechen etwas wiederholt. Wird es aufgezeichnet, ist das schon anders. Ohne die kommunikative Situation bringt man später weniger Geduld auf, es zu hören. Wenn du den Sprechenden nicht siehst, wird das gesprochene Wort empfindlicher, man hört eher Schnitzer, Dopplungen, usw. In der Verschriftlichung wird es ganz ernst. Die Stimmführung fällt weg, mit der du etwas betonst, zurück nimmst und den Rhythmus der Rede gestaltest. Was im Gespräch ganz mühelos funktioniert, muss in der Schrift linearisiert werden. Jede Bearbeitung tut das ein Stück weit, indem sie ordnet und strafft, wegnimmt und ergänzt. Bereits in dem Moment, wo ein Gerät eingestellt wird, setzt man sich mehr oder weniger bewusst damit auseinander. Sobald eine Kamera oder ein Mikrofon da ist, wird eine bestimmte Konzentration ausgelöst. Anders als bei Filmern, die ihr Sujet unbeobachtet filmen, ist es genau dieses Zusammenspiel zwischen Aufnahmegerät und dem Aufgenommenen, was mich interessiert. Die mediale Situation wird nicht überspielt. Was du bekommst, ist ein in die mediale Situation eingespannter, bewusster Selbstausdruck. Du arbeitest mit dieser Situation, nicht dagegen. Die Apparatur baut ein Spannungsverhältnis auf. Jede interessante Frage hilft, diese Spannung zu kanalisieren und in eine bestimmte Richtung zu führen, d.h. weder die Situation noch die Erzählung sind spontan. Trotzdem ist nicht genau vorhersehbar, was passieren wird. Es gibt in dieser Situation intuitive Abstimmungsprozesse, für die bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Die Frage, ob Männer oder Frauen vor der Kamera stehen, spielt hier auch eine Rolle. Ganz deutlich ist es mit Frauen anders als mit Männern. Mit Männern habe ich sofort ein zusätzliches, in diesem Fall störendes Thema neben dem Eigentlichen: das Geschlechterverhältnis. Die Verständigung mit Frauen verläuft umstandsloser. Mit den Protagonistinnen, die ich ausgewählt habe, stehe ich zwar in keiner persönlichen Beziehung, teile aber einen gemeinsamen Horizont mit ihnen. Es gibt eine gemeinsame Bereitschaft, sich auf einen Dialog einzulassen, der schneller zum Wesentlichen führt. Für mich spiegelt sich das oft in Details. Ich schaue auf den Körper, die Gesten, höre die Stimmführung. Das ist es, worauf ich bei der Aufnahme achte und wonach sich der Schnitt richtet. Die Linearisierung in deiner Bearbeitung des Aufnahmematerials ist nicht allein an der Erzählung orientiert. Das Modell ist eher so etwas wie ein polyphoner Satz aus Stimme, Blick und Gestik, der die Aufmerksamkeit für die somatische Seite des Erzählens weckt. Die Traumbilder werden in Sprache übersetzt. Das Sprechen verkörpert sich. Und das übersetzt du in Bilder. Im Grunde ist träumen auch ein somatischer Prozess, ein physischer Ablauf. Das wird sehr plastisch in der Traumerzählung, wenn die Erwachende sich den Kopf am Bettpfosten anschlägt. Ein gutes Beispiel. Sie erzählt: »Ich bin aus dem Traum aufgewacht und ich muss mich im Bett gedreht und die Orientierung verloren haben. Ich bin so hochgeschnellt, mit dem Gesicht gegen die Wand geknallt, mit der Lippe auf den Bettpfosten und habe mir die ganze Lippe blutig geschlagen.« Das Gewaltsame des Traums wirft den Körper noch im Erwachen nach vorn. Es gibt diese physiologische Ebene in der Traumarbeit und da du nicht auf die psychoanalytische Ebene abhebst, wird die somatische Ebene betont. In den Momenten, in denen die Worte es allein nicht sagen können, springt in der Traumerzählung der Körper ein, um das Hervorbringen darzustellen. Es ist spannend, wie sich die Protagonistinnen im Erzählen verwandeln, alles belebt sich an ihnen, wird eigen. Bei der Erzählerin des »Kugeltraums« sieht man das besonders, weil sie von einer Traumerfahrung erzählt, die schwierig zu beschreiben ist. Was hat dir an ihrem »Kugeltraum« gefallen? Dass Traum und Traumerzählung so physisch sind, die Beschreibungen von etwas Körperhaftem ohne Körper. Die Textur, wie sich etwas anfühlt, die merkwürdigen schmutzigen Fleischfarben, das ist sehr haptisch. Das gibt es in vielen Traumerzählungen, im »Glasfibertraum« zum Beispiel, diese buchstäblich bohrende Frage, wie sich die Haut anfühlt. Immer wieder versucht sie, mit der Sprache ihrem Gefühl nahezukommen. In der »Marmorliege« auch: es sind kreisende Beschreibungen, in denen Näherungswerte für dieses Physische gesucht werden. Die Herzpunkte der Traumerzählungen sind fast immer physisch. Die Faszination der Traumempfindung wird gerade durch die Schwierigkeit, sie zu beschreiben, plastisch. Du hast es durch deine Art zu fragen, durch deine Schnittentscheidungen akzentuiert. Zentral für die Arbeit ist, dass diese Passagen äußerster Konzentration die Aufmerksamkeit auf Details lenken. Sie fokussieren dieses Ringen um Präzision in der Beschreibung, so dass gar kein vordergründiger Deutungsbedarf aufkommt. Es geht nicht um das Material für psychoanalytische Gemeinplätze, sondern um die Intensität der Traumerfahrung, die Intensität der Traumerzählung. Erinnern und Erfinden gehen da ständig ineinander über, um die Traumerfahrung mitteilbar zu machen. Dieses Herausarbeiten braucht ein empathisches, nachfragendes und stützendes Hören. Das gehört zu der kommunikativen Situation, die ich herstelle. Deine Fragen haben keine andere Aufgabe, als den Erzählfluss zu entbinden. Das Erzählen selbst ist das Ziel der Übung, nicht, was es aufdecken könnte, was für Schlussfolgerungen daraus zu ziehen wären. Das ist grundsätzlich anders als im psychoanalytischen Kontext. Und es ist radikal anders als Interviewfragen und Antworten wie im Fernsehen üblicherweise. Da geht es um Information. Möglichst knapp und präzise und dann wird auch noch so geschnitten, dass möglichst nur die Informationen übrig bleiben. Wenn du jemanden zum Erzählen animierst, steht das in der Tradition der Oralität. Eine Geschichte erzählen, da geht es nicht vorrangig um Information, nicht um »Wahrheit«. Wenn sie gut erfunden ist, ist das gut genug. Du bist darauf aus, an der Geschichte oder Person das Spezifische herauszustellen. Und das Spezifische kann verlogen sein und es kann die reinste Wahrheit sein. Ich wähle und montiere nach der Intensität des Erzählens und dem Selbstdarstellungsgestus der Personen, die die Spannung dieser teils absurden Geschichten mitbestimmen. Unser gemeinsames Interesse, mein Zuhören und ihr Erzählen, ist der Anlass, nicht das Spektakel oder die Suche nach Bedeutungen. Aber was verraten die unbewussten Gesten? In Gesten steckt immer beides, bewusste Darstellung, aber auch die unwillkürliche Regung, die das Sprechen begleitet. Normalerweise werden Gesten allenfalls halbbewusst wahrgenommen. Du betonst es durch die Entscheidungen, die du vor, in und nach der Aufnahme gefällt hast. Die gefilmten Personen gehen damit natürlich auch um. Es gibt ein Spiel zwischen dem, was sie darstellen und dem, was sich noch mitteilt. In der medialen Situation verstärkt sich das, es ist Teil der Inszenierung. Was die Kamera festhält, ist nicht das psychisch Unbewusste, sondern das, was Benjamin das optische Unbewusste nennt. Aufzeichnungsmedien halten fest, was der situativen Wahrnehmung entgeht. Damit setzt du dich in der Bearbeitung auseinander. Sie verdichtet gewissermaßen die Optizität. Freuds Zugang zum Unbewussten betont die sprachliche Seite. Charcot dagegen beobachtete das Körperverhalten der Hysterikerinnen und ließ die Anfälle fotografieren, um systematisieren zu können. Der Schritt von Charcot zu Freud ist der vom Sehen zum Hören, vom Bild zur Schrift. Bei dir gibt es auf unterschiedlichen Ebenen einen Einspruch gegen die psychoanalytische Besetzung des Traums. Eine entscheidende ist, die bildhaft visuelle Dimension beim Erzählen zu thematisieren, der Sprache den Körper zurückzugeben, so dass sie als Rede erscheinen kann. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Untersuchungen ist es entscheidend, dass das bedeutungsoffen bleibt. Die Form wie du das Material bearbeitest, die Normierung der Einstellungen, schaffen eine serielle Struktur, die gerade durch die formalen Festlegungen eine inhaltliche Schließung verhindert. Wiederholung und Formen der Serie sind mir bei den Aufnahmen und der Montage wichtig. Die Traumerzählungen der Protagonistinnen werden z.B. nicht parallel montiert und miteinander verschnitten sondern gereiht. Die Bilder bauen sich von der Verkörperung der Rede auf. Sie verlaufen parallel zum Erzählfluss, das darf nicht unterbrochen werden. Die Folgearbeit »Unterbrechung der Rede« tut dann genau dies. Ihr Titel verweist darauf. Aber nicht du unterbrichst die Rede, sondern es sind die Momente, in denen die Erzählerinnen selbst innegehalten haben. Die Außenwahrnehmung scheint für Momente unterbrochen. Im Loop werden diese sprachlosen Momente wiederholt, so dass man den Frauen beim Nachdenken zusehen kann, ihren kleinen, unwillkürlichen Gesten, die man sonst kaum wahrnimmt. Die »Unterbrechung der Rede« ist auf den Blick des flanierenden Betrachters zugeschnitten, für den Ausstellungsraum und den öffentlichem Raum gedacht. Ich könnte mir die Arbeit z.B. auf dem Großbildschirm eines U-Bahnhofs oder in der Eingangshalle am Bahnhof Zoo vorstellen. Das ist charakteristisch für deine Herangehensweise. Beim Nachdenken über das aufgenommene Material und über die unterschiedlichen medialen Situationen kommt es zu Abspaltungen, Neuformulierungen. Das sind Ausdifferenzierungsprozesse. Im Kunstkontext denkst du den Raum immer mit. Die Platzierung ist Teil der Arbeit. Die Arbeit »Video minus Bild« besteht aus drei Geschichten (»Diätklinik, Marmorliege, Siebzehn«) aus den »16 Traumstücken«, die im Ausstellungsraum zu hören, aber nicht zu sehen sind. Diese drei Geschichten von jeweils vier Minuten sind auch als Sendereihe an drei aufeinander folgenden Tagen im Radio denkbar. Dort fällt die negative Bilddimension natürlich weg. Es wäre wieder etwas anderes. Video ist ein audiovisuelles Medium. Du nimmst das Auditive und spielst es im Ausstellungsraum und im Radio durch. Du nimmst die visuelle Ebene, spielst sie im Kino, Ausstellungsraum und öffentlichen Raum durch. Jedes Mal muss wieder neu darüber nachgedacht werden, wie sich die elektronischen Impulse vergegenständlichen sollen. Aus diesen unterschiedlichen Ebenen entfaltet sich ein Werkkomplex. Die Arbeiten entwickeln sich ganz konkret an den Gegebenheiten, den Widerständen. In der medialen Situation vor Ort gewinnt die Arbeit jeweils Gestalt. Das was sich zeigt, kann zur Ausgangsbedingung für andere Möglichkeiten werden, z.B. die Polaroids. Du probierst bestimmte Gesten der Erzählenden zu fixieren. Du fotografierst vom Bildschirm ab. Am Reflex auf dem Bildschirm sieht man den medialen Durchgang: Video, Fernsehen, Foto. Zugleich transformiert er das Ausgangsmaterial. Ein anderes Format produziert eine andere Aufmerksamkeit. Es entsteht etwas Neues. Als du im Atelier warst, hat mir deine Beobachtung besonders gut gefallen, dass im Gegensatz zum Ausstellungsraum im Kino der Leinwandkasch das projizierte Bild rahmt. Diese Rahmung braucht der Film als zusammenhängende Narration. Umgekehrt verschwindet im halbdunklen Ausstellungsraum die Rahmung auf der Wand. Projektionswand und reale Wand des Drehortes sind in Helligkeit und Farbe identisch. Die überlegenden Gesichter der Videoprojektion »Die Unterbrechung der Rede« wirken freigestellt, nicht gerahmt. Sie sind in die Länge gezogen. Das verstärkt das Ikonische. Dass du das Material loopst, tut ein Übriges. Der Loop besetzt eine Zwischenstellung. Er erweitert die Möglichkeit des Bildes durch die Öffnung der Zeitgrenze und biegt zugleich die gerichtete cinematographische Zeit gewissermaßen auf das Bild zurück. Loops sind für passagere Betrachtersituationen geeignet. »16 Traumstücke« ist im Kunstraum wesentlich anfälliger für Störungen. Im Gegensatz zur Arbeit »Die Unterbrechung der Rede« muss es richtig dunkel sein, so dass sich eine Rahmung des Bildes herstellt. Es braucht einige Konzentration, den Erzählungen zu folgen. Denkbar wäre aber auch eine offene Situation. Auf drei bis sechs Projektionsleinwänden, die gestaffelt im Raum hängen, könnte man auswählen, welchen Traum oder welche Person man sehen und hören möchte. So lässt sich der Zwang des vorgeschriebenen Nacheinander brechen. Im Film hast du die Traumstücke seriell angeordnet. Aber sie verbleiben in der Linearität der Zeit, eins nach dem anderen. Durch die Öffnung zum Raum faltest du die Chronologie des Films auf. Jede Aufführung erzeugt eine andere Form von Aufmerksamkeit und zwar sowohl vom Raum als auch vom Publikum her. Jedes Mal, wenn die Arbeit den institutionellen Raum wechselt, ändert sich die Erwartungshaltung. Es sind also die Aufführungsbedingungen, die die interpretative Praxis entfalten. Auch für dich. Du reagierst darauf mit Ausdifferenzierungen, Verschiebungen, Neuformulierungen. Darin steckt eine innere Ökonomie, die sich aus dem bewussten Umgang mit den medialen Bedingungen ergibt.

In: Ich fürchte, ich bin im Bild. Goldrausch Künstlerinnenprojekt (Hg.) Berlin 2003

2003