what you lose on the swings you gain on the roundabouts

Christian Hanussek

Anette Rose, Deutschland: 1996 (Videoessay, 31 Minuten)

Der Titel, ein englisches Sprichwort, entwirft eine Geschichte vom Verlieren und Finden in der Welt spielender Kinder in einer Logik, die nicht in Frage gestellt werden kann, da sie eigentlich keinen Sinn macht und einfach behauptete Faktizität ist.
Der Titel auf schwarzem Hintergrund beginnt nach einem Moment nach oben zu rollen und es folgen weitere Sprichwörter zum Thema Verlieren und Finden:

for every loser there is a finder
that’s part of losing things
people want to lose things
nothing lost nothing gained
losers can’t be choosers
finders keepers losers weepers

Ohne Zäsur werden diese Rolltitel fortgesetzt  mit einer weiteren Gruppe von Aussagen:

everything is unique really
it’s impossible to replace it
what I want comes by surprise
it was meant to be yours
if you don’t search you don’t find it
things pop up to the surface
we only remember fragments

Am Ende dieser Rolle erscheint immer noch vor schwarz ein als Block gesetzter, stehender Zwischentitel:

Auf dem Weg ihren Kopf zu verlieren, verlor sie ihren Filzhut.

Eine Abfolge von Close-up Stills, rund um Hals, Jacke und Kinn mit Mund leiten einen Wechsel von der Text- zur Bildebene ein. Die „laufende“ Kamera zeigt dann eine junge Frau in Nahaufnahme, leicht von unten vor einer Backsteinwand. Sie erzählt auf englisch vom Verlust ihres grünen Filzhutes. Sie erklärt, warum dieser Verlust für sie besonders gravierend war, zunächst mit der idealen Funktionalität dieses Hutes, für den sie keinen Ersatz finden konnte. Die zugleich ironisch und zwanghaft wirkende Geschichte bekommt aber plötzlich noch eine andere Wendung, als die Umstände des Verlustes mit einer Person, die sie wirklich mochte, am Rande einer sich entwickelnden Beziehung in Verbindung gebracht werden. Sie sei in dieser Situation entspannt gewesen und hätte durch ihr Interesse an „ihm“ dabei die Kontrolle auch über ihren Hut verloren.

Ihre Erzählung wird immer wieder durch Schwarzfilm unterbrochen und in einzelne Aussagen, manchmal nur einzelne Sätze fragmentiert. Auch die vier Stills vom Anfang werden über die Geschichte verteilt wiederholt und über ihren unteren Rand laufen als Textband horizontal von rechts nach links jeweils einzelne der gesprochenen Sätze zum Teil die Aussage vorwegnehmend, zum Teil sie wiederholend:

it just made your life better
I have never found one like it
if I had been on my own I would definitely have come home with that hat

und der Satz it was meant to be yours, der auch in den Rolltiteln am Anfang vorkam.

Als zweiter Zwischentitel erscheint wieder als Block weiß auf schwarz:
Nach dem Schlaganfall seiner Mutter hat er den Kontakt zu ihr verloren.
Nach der Abfolge von vier close-up Stills beginnt ein junger Mann auch vor einer Backsteinmauer, die Kameraperspektive jedoch in einem anderen Winkel, die Veräderung der Beziehung zu seiner Mutter nach deren Schlaganfall zu erzählen. Bei seinen Aussagen wird deutlich, dass er auf Fragen antwortet, die ihm gestellt wurden, im Video jedoch nicht gezeigt werden. Auch in dieser Geschichte wechselt die Ebene von der Beschreibung des Verlustes des Gegenstandes bzw. der Gesprächspartnerin auf eine persönliche, nach innen gerichtete. Er beschreibt sein Dilemma, einen Platz für sie in seinem Leben zu finden, das sich nach und nach von ihr entfernt hat. Sein Erkennen des Verlustes ist die eigentliche Veränderung.
Schließlich wird nochmals die Ebene gewechselt und es geht um Erinnerungen. Er empfindet sie ganz allgemein als schmerzhaft, etwa solche, die durch Fotografien ausgelöst werden. Er vermeidet Wiederholungen und möchte nichts suchen, sondern sich überraschen lassen. Am Schluss antwortet er – vermutlich auf die Frage nach seinem Wunsch: true love – everybody says that, but I don’t think I’ll find that.
Auch hier wie in allen Sequenzen des Videos werden die Aussagen durch Schwarzfilm unterbrochen und in einzelne isolierte Sätze zerteilt. Auf den vom jeweiligen Anfang der Sequenz wiederholten close-up Stills laufen die Textbänder:

I didn’t have anybody to do anything for
I lost this sounding board
I won’t go back to places
what I really want comes by surprise

Die dritte Sequenz hat den Titel:
Sie erinnert sich an den Geruch von Filzstiften, die sie als Kind versucht hat wiederzufinden. Die Existenz der Filzstifte wurde von ihren Eltern bezweifelt.

Eine junge Frau erzählt: als sie etwa fünf Jahre alt war, hatte sie Magic Markers, und als sie sie suchte und nicht finden konnte, wollte sie diesen Geruch wie ein Objekt wiederhaben. Ihre Eltern haben jedoch die Existenz dieser Filzstifte bezweifelt.

Die vierte Geschichte:
Ihr Kontakt zu einem Mann, den sie täglich im Zug gesehen hat, ist abgebrochen. Sie versucht Ihn wiederzufinden. wird von derselben Frau erzählt. Sie beginnt mit. „I lost a friend eh.. a person…“ Die Beziehung scheint recht unklar; sie war ihm auf dem Weg zur Arbeit täglich im Zug begegnet und vermisst ihn nun. Sie hatte sich aus den eher flüchtigen Unterhaltungen genug Informationen gemerkt, um ihn detektivisch verfolgen und seinen Arbeitsplatz aufspüren zu können. Nun ist sie verzweifelt, weil sie sich ihm nicht offenbaren kann. I could find him but I need to be found Sie glaubt sie habe ihn vielleicht deshalb verloren, weil sie keine Kontrolle über die Situation hatte. Sie sucht Gefühle der Vergangenheit wiederzubeleben, wie den Geruch jener Magic Markers; deshalb hört sie gerne zu und sammelt Informationen, um dann etwas zurückverfolgen zu können.

Sie war elf Jahre, als ihre Mutter für immer fortging. In Photographien sucht sie nach Erinnerungen an sie. Als Kind dachte sie, ihre Mutter habe sich verlaufen und den Weg zurück nicht mehr gefunden. Indem sie Fotoalben durchsieht, versucht sie herauszufinden, was sie verloren hat und ihre Mutter wiederzufinden. Manchmal denkt sie: You have to lose things to find something else Die Erinnerung an eine Handtasche, die sie als Kind hatte, wird zur Erinnerung an die Mutter. Nun ist ihre Hauptangst, ihre Tochter Pearl zu verlieren.

In der Schule hat sie die Sprache verweigert. Sie hatte sich entschieden nicht zu sprechen, weil sie unbemerkt bleiben wollte. In dieser Sequenz wird die Struktur des Films unterbrochen und die Stimme einer Frau ist zu Schwarzfilm zu hören. Die einzelnen Sätze kommen langsam und zögerlich: Man kann es nicht als einen Verlust bezeichnen, aber sie hat eine lange Zeit lang nicht gesprochen. Sie hatte nicht ihre Stimme verloren, sie wollte einfach nicht sprechen und sie wollte auch nicht angeschaut werden. I could disappear and not be noticed Sie war etwa 12 Jahre alt und es dauerte etwa 9 Jahre. Es bezog sich auch nur auf die Schule, außerhalb redete sie. In der Schule sei es auch nicht aufgefallen, dass sie hinten saß und nichts sagte.

Sie hat den Kontakt zu vier Kindern verloren, die sie sehr gut kannte. Sie versucht sie in ihrer Erinnerung wiederzufinden. Eine Frau beschreibt ihre Gefühle der Trauer und Verzweiflung nach dem Verlust von vier Kindern, zu denen sie den Kontakt verloren hat, weil ihre Beziehung zu deren Eltern zusammengebrochen war. Unter den vielen Gründen für diesen Verlust sieht sie vor allen ihre Unfähigkeit sie wiederzufinden. Sie versucht ihr Verhalten zu erklären, abstrakt zu interpretieren und bleibt dabei in unklaren Andeutungen zu den tatsächlichen Ereignissen. Es scheint so kompliziert zu sein wie ihr Verhältnis zu diesen Eltern. In der Erinnerung und im Bemühen sie wiederzufinden, findet sie immer nur die Tatsache ihres Verlustes. Der wiederholte Versuch sich zu erinnern ist Teil des Prozesses von Verlieren und Finden. We only remember fragments Beim Erinnern aktiviert man etwas in der Gegenwart und in der Zukunft.

Ausgangspunkt für diesen Film ist ein Netz von Fragen um das Verlieren, Suchen, Finden, Erinnern, Vergessen. Wie die Fragen an die sechs Protagonisten gestellt werden, zeigt der Film jedoch nicht. Die Fragen können nur aus den Antworten geschlossen werden. Ebenso beschränken sich die Informationen über die Situationen, in der die Aufnahmen gemacht wurden, auf eine Backsteinmauer, wie man sie vielerorts in London finden kann. Die Struktur dieser Mauern verbindet die Drehorte; ihr Raum wirkt eher neutral, wie auch die interviewten Personen, die alle in ihren 30ern und aus der Mittelschicht zu sein scheinen. Wodurch sie sich aber auszeichnen ist ihre Fähigkeit, die Fragen sehr differenziert zu beantworten. Die Offenheit, in der sie die mit ihren persönlichen Erfahrungen verbundenen Empfindungen darstellen und ihr eigenes Verhalten dabei interpretieren, überrascht. Dem Film gelingt es die Aufnahmesituation zum Katalysator für spontane und assoziative Antworten zu machen und hinter den faktischen Ereignissen die Prozesse im Unbewussten hervortreten zu lassen. Er gibt den Befragten die notwendige Sicherheit, sich soweit zu öffnen, ohne sich bloßzustellen.
Das Verhalten in diesem Prozess ist bei den einzelnen jedoch sehr unterschiedlich: Obsessive Lust hat die Frau bei der Erinnerung an die „Magic Markers“ und bei der Verfolgung von Personen (to track down someone). Für diejenige, die den Kontakt zu den Kindern verloren hat, ist der Erinnerungsprozess ein schmerzhafter, der sie immer nur mit ihrem Scheitern konfrontiert. Der junge Mann möchte sich gar nicht gerne erinnern, flieht selbst die positiven Erinnerungen.
In allen Geschichten ist der Verlust nur ein Ausgangspunkt für eine Reflexion der Umstände, und dabei kommt es zu einer Umkehrung: Der Verlust ist nicht der Auslöser einer Veränderung, sondern ihr Resultat. Hier nähern sich die Geschichten Parabeln und einzelne Sätze Aphorismen; die individuellen Geschichten berühren das Allgemeingültige.

Die sieben Teile des Films werden jeweils mit ihrem Titel und Close-up Stills eingeleitet. Die gefilmten Sequenzen werden unterbrochen durch Schwarzfilm und durch die Wiederholungen von Textfragmenten auf den Stills. Die Aussagen werden zerteilt in einzelne, isolierte Sätze. Diese destillierten Wahrheiten werden von den konkreten Geschichten abgelöst und bilden in der durchgehenden Struktur des Films eine die Sequenzen übergreifende Bedeutungsebene.
Auch der Wechsel der Sprache von den deutschen Überschriften zur englischen Rede abstrahiert die Aussagen, da Wörter und Redewendungen in einer fremden Sprache immer abstrakter wahrgenommen werden als in einer vertrauten. Der Film dokumentiert den Prozess sprachlicher Reflexion, den gerade Engländer zu kultivieren scheinen und ist auch eine Hommage an diese Sprachkultur.

Der Gegenstand der Geschichten ist ein in der Situation der Aufnahme erinnerter, imaginierter und auch eine Filmaufnahme ist als reproduzierte Zeit eine Modellsituation von Erinnern. Der Film versucht, die Suchbewegungen der Erzählenden um den Prozess Besetzung, Aneignung, Verlust der Kontrolle und deren Wiederherstellung ins eigene Medium zu übertragen.
Schaukel und Karussell im Titel des Films beschreiben zwei Bewegungen; der Film thematisiert verschiedene Formen von Bewegung; auch die Unterbrechung des „laufenden“ Bildes durch Schwarzfilm und Standbilder, beinhaltet Zeit, ist kein Anhalten. Meine Beschreibungen der Geschichten am Anfang dieses Textes sind eine Wiederherstellung der im Film zerlegten Erzählungen und gleichzeitig eine Interpretation, wie jedes Verstehen eine Aneignung und eine Erinnerungsarbeit ist. Bilder, Begriffe, Abläufe werden in Beziehung zu Erfahrungen gesetzt und erhalten in der Relation Bedeutung. In konventionellen Formen des Films wird diese Tätigkeit des Zuschauers oft negiert; solche Filme beanspruchen ihren Inhalt absolut zu kontrollieren.

Anette Rose öffnet durch die formale Strukturierung die Bedeutungsebene ihres Films. Sie fächert ihn auf zu einer Assemblage von bewegtem Bild und Standbild; Bild und Schwarzfilm; Bild und Text, gesprochenem und geschriebenem Text.
Zugespitzt illustriert wird dieses Verhältnis in der Sequenz der Frau, die ihre Sprache verloren hatte. Nun möchte sie nicht gefilmt werden und zu ihren Aussagen läuft Schwarzfilm. Sie hat die Verweigerung der Sprache durch die Verweigerung des Bildes ersetzt.

In: Shomingeki Filmzeitschrift No 13/14. Rüdiger Tomczak (Hg.) Berlin 2003

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