Hand und Auge

Ines Lindner

Anette Roses „Enzyklopädie der Handhabungen“

Elf Arbeitsvorgänge, elfmal der konzentrierte Blick und die Arbeit von Hand und Maschine. Es wird gekettelt, geschliffen, gestanzt, gewalzt. Das Geräusch der Maschinen, oft rhythmisch, gibt den Zeittakt der Arbeitsprozesse an. Die Doppelprojektion über Eck stellt die Beziehung zwischen Hand und Auge her, indem sie uns auffordert, ihr Zusammenspiel in einem Blick aufzufassen. Der Anthropologe Leroi-Gourhan hat in der Wechselbeziehung zwischen Hand und Auge die Grundlage für die Entwicklung der menschlichen Intelligenz ausgemacht. Werkzeuge zur Entlastung der Hand verändern das Verhältnis zwischen Hand und Auge. Maschinen übersetzen die Tätigkeit der Hand ins Mechanische und modifizieren ihrerseits den Gebrauch der Hand. Verglichen mit der Evolution der menschlichen Hand ist die Entwicklung, die auf die Entlastung von der Handarbeit durch Maschinen gerichtet ist, kurz. Sie verläuft keineswegs linear. Es ist eine Frage der Ökonomie, wie weit die Handarbeit ersetzt wird. Die Rentabilität richtet sich dabei nach dem Gegenstand und ihren sozialen Voraussetzungen, aber auch nach Werkstoff und Stückzahlen. Die Vorstellung, dass automatisierte Produktionsformen notwendig rentabler sind, trifft nicht zu. Für bestimmte Produktionsvorgänge beispielsweise in der Autoindustrie ist es immer noch zu teuer, die hochkomplexen Funktionen der Hand zu ersetzen. Die Handgriffe bei der Bearbeitung hochwertigen Porzellans oder Bestecks werden sich in absehbarer Zeit nicht ändern.

Anette Roses Blick auf die Werkprozesse ist nicht nostalgisch. Sie interessiert sich für die haptile Intelligenz, die sich nur mit enormem technischen Aufwand in eine Robotik übersetzen lässt. Dieser haptilen Intelligenz fragt sie in den genauen Beobachtungen nach und in Gesprächen mit Experten: In wieweit prägt diese spezifische Intelligenz, die sich aus dem Zusammenspiel von Hand und Auge ergibt, unser Denken? Welche Rolle spielt es in der Forschung zur künstlichen Intelligenz? Der Prothetik?

Während die Künstlerin im Bereich der Forschung und Entwicklung unterwegs ist, arbeitet sie zugleich mit ihrer „Enzyklopädie der Handhabungen“ an einem Archiv der besonderen Art: Der konzentrierte Blick und die Ökonomie der Mittel stellt Anette Roses Arbeit in die Tradition der Sozialfotografie eines August Sander und der Industriearchäologie der Bechers. Wie ihre Arbeit ist auch die von Anette Rose dokumentarisch. Wie sie legt sie ein Archiv an, das nicht allein aufhebt, sondern überhaupt erst bewusst sichtbar macht. Wie sie arbeitet sie an einer Reduktion des Gegebenen, um das Bestimmende herauszuarbeiten. Für alle drei ist das serielle Moment entscheidend: Aus der Reihe des Ähnlichen tritt das Besondere umso stärker hervor und bleibt doch Teil eines Zusammenhangs. Einer konkret erfahrenen Wirklichkeit.

Wie Auswahl und Aufnahme der Industriearchitektur bei den Bechers nach genauen Regeln erfolgt, die für eine nach Licht und Positionierung einheitliche Erscheinung sorgen, so stellt ein Set von Regeln das auch für Roses Videoaufnahmen in den Betrieben sicher. Die Arbeit daran, die Kameraeinstellungen, Schnitt und Zusammensetzung der Aufnahmen zeigen die Formstrenge des Minimalismus. Anders als bei den Minima- listen aber steht sie in Spannung zum engagierten Blick auf ihr Sujet. Roses Arbeit ist unsentimental und genau in ihrem Blick auf die Arbeitenden und die Werkprozesse. So individuell uns die einzelnen Gesichter und Gesten gegenübertreten, sehen wir zugleich die eindringliche Bestandsaufnahme von Kulturtechniken einer industrialisierten Gesellschaft.

Neben Auswahl, Aufnahme und Schnitt kommt noch ein weiteres Moment künstlerischer Gestaltung hinzu: die Inszenierung im Raum. Der Turbinenraum im Tuchmacher Museum Bramsche ist, gerade weil er kein Ausstellungsraum ist, auf besondere Art ein Ort für Roses Arbeit, die unterschiedliche Gewerke zeigt. Von hier wurde die Energie verteilt, die zuerst Wasserräder erzeugten und dann Turbinen. Zur Geschichte des Standorts gehört, dass verschiedene Handwerke und Kleinbetriebe sie in einer zeitlich festgelegten Abfolge gemeinsam nutzten.

In: Colossal – Kunst Fakt Fiktion. Landschaftsverband Osnabrücker Land e.V. (Hg.) Kurator: Jan Hoet. Bramsche 2009.

2009